Geschichte der Zahnmedizin an der Universität Greifswald
Zahnärztliche Spezialkurse für Studenten wurden in Greifswald erstmalig im Wintersemester 1893/94 an der Chirurgischen Klinik angeboten. Bereits 1895 wurden 128 Patienten behandelt. Am 12. Dezember 1900 berief der Minister für geistliche, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten Dr. Herrmann Schröder aus Kiel als ersten Lehrer der Zahnheilkunde nach Greifswald (siehe Abb.).
Dr. Herrmann Schröder |
Das geschah auf ausdrücklichen Wunsch des Chirurgen Prof. August Bier. Die Ausbildung von Studenten der Zahnmedizin begann am 1. April 1901 in der zahnärztlichen Abteilung der chirurgischen Poliklinik. Zunächst wurden in der Langefuhrstraße 2 Räume angemietet, schnell folgte die Unterbringung in der Hunnenstraße 1 (siehe Abb.). Schon bald wurden 5000 Patienten poliklinisch behandelt. 1901 habilitierte sich Schröder mit einer Arbeit über »Die Anwendungsweise zahnärztlicher Prothetik mit besonderer Berücksichtigung des sofortigen Kieferersatzes nach Resektion«. Diese Frage ist bis zum heutigen Tag hochaktuell. 1907 wurde er zum außerordentlichen Professor ernannt und nach Berlin berufen.
Sein Nachfolger wurde Guido Fischer. Auch er setzte seine Kraft und seinen Elan für das Institut ein. Sein besonderes Interesse lag auf dem Gebiet der Schmerzausschaltung mit Lokalanästhetika. Sein Buch »Lokale Anästhesie« erschien 1911 in erster Auflage, 1955 in der letzten, zehnten Auflage. 1911 folgte er einem Ruf nach Marburg.
Sein Nachfolger wurde Dr. Paul Adloff. Sein Wirken war von Raum- und Geldmangel bestimmt. Bis 1912 verfügte das Haus in der Hunnenstraße über keinen eigenen elektrischen Anschluß. Die Sturmflut 1913/14 beschädigte das Gebäude schwer. Adloff gelang trotz schwierigster Bedingungen 1916 die Einrichtung eines modernen Institutes. Ab dem 15. April 1916 wurde die zahnärztliche Einrichtung auf ministerielle Weisung als selbständiges Institut geführt. Intensiv und erfolgreich setzte sich Adloff für die Einführung der Schulzahnheilkunde ein. Wissenschaftlicher Schwerpunkt waren entwicklungsgeschichtliche Forschungen.
Dr. Guido Fischer |
Prof. Dr. Erich Becker wirkte nur vom Sommer 1921 bis zum Frühjahr 1923 als Direktor des zahnärztlichen Institutes. Er promovierte über den operativen Verschluß von Gaumenspalten. Für die Ausbildung zum Zahnarzt wurden pro Semester 60 bis 70 Wochenstunden praktische übungen durchgeführt und 10 bis 12 Stunden Vorlesungen auf den Gebieten der konservierenden, prothetischen und chirurgischen Zahnheilkunde gehalten.
Prof. Dr. Friedrich Proell wurde Nachfolger von Becker. Seine wissenschaftlichen Untersuchungen stellten die Mundhöhle als Organ des Gesamtorganismus in den Mittelpunkt des Denkens. Außerdem bearbeitete er u. a. Stoffwechselvorgänge der Zahnhartsubstanzen, Ursachen von Stellungsanomalien der Kiefer und Zähne.
Das Zahnärztliche Institut in Greifswald hatte sich inzwischen zur viertgrößten Einrichtung in Deutschland entwickelt, obwohl die bauliche Situation trotz intensiver Bemühungen unbefriedigend war. Das Institut hatte nicht einmal einen eigenen Hörsaal.
Unter den Studierenden war der Anteil der Ausländer besonders hoch. Die meisten Studenten kamen aus Skandinavien. 1928 endlich konnten ein weiteres Gebäude in der Hunnenstraße und 1931 das alte Greifenhaus in der Stralsunder Straße 10 übernommen werden. Trotz des Raumgewinnes war die Unterbringung in drei verschiedenen Häusern keine befriedigende Lösung. Mit dem Erwerb und Umbau des Gartenrestaurants »Grüne Linde« in der Rotgerberstraße 8 konnte diese mißliche Situation überwunden werden. Am 27. Juli 1934 wurden das neue Institut eingeweiht und der Lehrbetrieb aufgenommen. Die räumlichen Verhältnisse erlaubten jetzt auch die Einrichtung einer stationären Krankenabteilung. Zwei Betten wurden zur Keimzelle der heutigen Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie/Plastische Operationen. 1935 spitzten sich Anfeindungen und Querelen gegen Proell zu, so daß er einem Ruf nach Bonn folgte. Der freigewordene Lehrstuhl wurde mit Professor Dr. Dr. Paul Wustrow besetzt. Die Zahnklinik wurde in eine chirurgische, orthopädische und konservierende Abteilung gegliedert. Stei-gende Verwundetenzahlen des II. Weltkrieges führten 1943 zur Genehmigung einer Station mit 20 Betten. Gleichzeitig hieß das Institut nun »Klinik und Poliklinik für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten«. Die so dringend benötigte Bettenstation der Zahnklinik wurde erst am 30. Januar 1945 in der Bahnhofstraße 2/3 eröffnet. Wustrow befaßte sich insbesondere mit Frakturbehandlungen und Werkstoffkunde, betonte die Zusammenhänge von Zahnheilkunde und Allgemeinmedizin. Die ersten Jahre nach dem Krieg waren durch ständige personelle Schwierigkeiten und Veränderungen geprägt. Für kurze Zeit erfolgte die Leitung der Klinik durch Prof. Dr. Richard Plötz, Dr. Georg Packhäuser und Dr. Karl Jarmer. Mit der Ernennung von Prof. Dr. Otto Hübner am 1. Juni 1947 begann wieder ein kontinuierlicher Lehr- und Forschungsbetrieb.
Erstes Zahnärztliches Institut Hunnenstraße 1 |
Nach fünfjähriger Tätigkeit starb Prof. Hübner im Alter von 75 Jahren. Wissenschaftlich beschäftigte er sich vor allem auf dem Gebiet der Karies, der Zahnerhaltung und Prothetik.
Ab September 1952 übernahm Prof. Dr. Dr. Josef Heiss die Leitung der Klinik. Er richtete die kieferorthopädische Abteilung ein. Wissenschaftlich wirkte er auf den Gebieten der Chirurgie und Kieferorthopädie. Schon im November 1953 folgte er einem Ruf nach Jena.
Prof. Dr. Richard Plötz übernahm die Nachfolge. In der Rotgerberstraße 8 errichtete er eine Männerstation mit zehn Betten und eine Frauenstation mit sechs Betten neu. Er strebte einen Klinikneubau an. 1961 gelang der Erwerb des Grundstückes Rotgerberstraße 9, auf dem ein dreistöckiger Anbau an das bereits bestehende Gebäude entstand.
Am 1. Oktober 1963 übernahm Prof. Dr. Dr. Albrecht Schönberger die Leitung der Stomatologischen Klinik. Zu seinen Spezialgebieten gehörten u. a. die Chirurgie der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, die Traumatologie und die Tumorchirurgie.
Ernennungsschreiben für Dr. Herrmann Schröder vom 12. Dezember 1900 |
Seit dem Ende der sechziger Jahre erfolgte eine allmählich verstärkte Einflußnahme durch die SED. 1980 gehörten unter den 44 wissenschaftlichen Mitarbeitern (Professoren, Dozenten, Oberärzte und Assistenzärzte) 15 der Partei an. Ein Teil der Mitarbeiter konnte sich mit den politischen Bedingungen nicht identifizieren und beschritt eigene Wege.
1987 wurde die Stomatologische Klinik in die Sektion Stomatologie (heute Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde) mit drei selbständigen Polikliniken, der Poliklinik für Konservierende Zahnerhaltung (Leitung: Prof. Dr. Dr. Hansjörg Kötzschke), der Poliklinik für Prothetischen Zahnersatz (Leitung: Prof. Dr. Klaus Buth), der Poliklinik für Kieferorthopädie (Leitung: Prof. Dr. Siegfried Hensel) und der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (Leitung: Prof. Dr. Dr. Albrecht Schönberger) umgewandelt. Mit dieser Veränderung wurde Prof. Dr. Klaus Buth der 1. Direktor der Sektion Stomatologie.
Nach der Wiedervereinigung Deutschlands kam es zu grundlegenden Veränderungen. Die Lehrinhalte wurden an die Approbationsordnung der Bundesrepublik Deutschland angepaßt; einige wissenschaftliche Mitarbeiter gingen in die Niederlassung. Seit 1991 leitet Prof. Dr. Siegfried Hensel (Fachgebiet Kieferorthopädie) das Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde als geschäftsführender Direktor. Nach der Emeritierung von Prof. Dr. Dr. Hansjörg Kötzschke wurde als erster »Gesamtdeutscher« Prof. Dr. Georg Meyer aus Göttingen auf den Lehrstuhl für Zahnerhaltung, Parodontologie und Kinderzahnheilkunde berufen. Es folgten Prof. Dr. Reiner Biffar aus Frankfurt am Main auf den Lehrstuhl für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde, Prof. Dr. Bernd Kordaß aus Düsseldorf erhielt eine Professur für Zahnmedizinische Propädeutik/Community Dentistry. Prof. Dr. Thomas Kocher aus Kiel wurde für das Fachgebiet Parodontologie berufen.
Dem Lehrkörper gehören weiterhin die Professoren Dr. Elke Hensel (Kieferorthopädie), Dr. Fritz-Ulrich Meyer (Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie) und Dr. Wolfgang Sümnig (Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie/Oralchirurgie) an. 1993 wurde Prof. Dr. Dr. Albrecht Schönberger nach dreißigjähriger Tätigkeit als Kieferchirurg und Direktor emeritiert. Im Herbst desselben Jahres nahm Prof. Dr. Dr. Hans-Robert Metelmann den Ruf nach Greifswald für das Fachgebiet Mund-, Kiefer-, Gesichtschirurgie/Plastische Operationen an.
Unter dem Direktorat von Prof. Schönberger entstand der Neubau der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in der Sauerbruchstraße. Im Herbst 1989 war das Gebäude nach langem Weg rohbaufertig. Im April 1992 bezogen die Mitarbeiter eine Klinik, in der die Planung von Anfang an fachspezifisch begleitet wurde und die zu den modernsten Einrichtungen in Deutschland zu zählen ist. Der Auszug der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in das Klinikum Sauerbruchstraße ermöglichte am Standort Rotgerberstraße eine Reihe von Verbesserungen, doch die Situation dort ist weiterhin durch Raummangel gekennzeichnet.
In den Jahren nach der »Wende« stellte die Zahnmedizin zwei Dekane (Prof. Dr. Dr. Hans-Robert Metelmann und Prof. Dr. Reiner Biffar), einen Konzilspräsidenten (Prof. Dr. Georg Meyer), einen Prorektor (Prof. Dr. Dr. Hans-Robert Metelmann) und konnte gemeinsam mit der Medizinischen Fakultät und der ganzen Universität am 30. Juni 2000 die feierliche Investitur von Prof. Dr. Dr. Hans-Robert Metelmann als 337. Rektor der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald erleben.