27. Greifswalder Fachsymposium – Thema Funktion stand am 29. Juni im Mittelpunkt
Für das 27. Greifswalder Fachsymposium der Mecklenburg-Vorpommerschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an den Universitäten Greifswald und Rostock e. V. (ZMKMV) wählte Prof. Mundt, Vorsitzender der Gesellschaft und leitender Oberarzt der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik in Greifswald, dieses Mal das Thema „Funktion-(k)ein Buch mit sieben Siegeln“. Die Tagung war mit 120 Teilnehmern im Saal des Alfried-Krupp-Kollegs ausgebucht. Bei der Eröffnung wies Prof. Mundt auf die Vorteile der ZMKMV-Mitgliedschaft hin. Der gemeinnützige Verein verwendet seine Überschüsse größtenteils für die Förderung junger Nachwuchswissenschaftler zur Finanzierung von Sachmitteln oder für Reisekostenzuschüsse zu Kongressen. Der Antragsteller muss jedoch wenigstens ein halbes Jahr Mitglied sein. Außerdem werden für Fortbildungen der ZMKMV den Mitgliedern Rabatte auf die Teilnahmegebühr gewährt.
Der erste Referent des diesjährigen Fachsymposiums, Prof. Dr. Jens Türp, ist seit 2018 Leiter der Abteilung Myoarthropathien/Orofazialer Schmerz in der Klinik für Oral Health & Medicine des Universitären Zentrums für Zahnmedizin Basel. Nach einem dreijährigen Forschungsaufenthalt in der Facial Pain Clinic an der University of Michigan, Ann Arbor, USA, habilitierte er 1999 in Freiburg und wechselte kurze Zeit später nach Basel. Als international renommierter Autor zahlreicher Publikationen über Funktionsstörungen des Kausystems und zur evidenzbasierten Zahnmedizin verwendet er den größten Teil seiner Arbeitszeit für die klinische Behandlung von Patienten mit Myoarthropathien. Dafür hat er einen Diagnostik- und Therapiepfad entwickelt, der mit eigens dafür konzipierten Befundbögen sehr effektiv in eine wirksame Behandlung mündet. Evidenzbasierte Therapie heißt für ihn zuallererst die externe Evidenz durch Studien, aber auch die Erfahrung des Arztes, die so genannte interne Evidenz, und die Patientenpräferenz. Bis die interne Evidenz in der Entscheidungsfindung sicher greift, sollte der Arzt wenigstens 10 000 Therapiestunden lang Erfahrung gesammelt haben. In seinem Vortrag sprach Prof. Türp darüber, was in der Diagnostik von Patienten mit einer craniomandibulären Dysfunktion (CMD) notwendig und was überflüssig ist. Die bildgebende Basis ist die Panoramaschichtaufnahme. Er erläuterte seinen allgemeinen und speziellen Anamnesebogen sowie den klinischen Befundbogen. Die Anamnese deckt sich größtenteils mit dem offiziellen Funktionsstatus der DGZMK. Im Basler Befundbogen fehlen die Okklusionsdiagnostik und Elemente der manuellen Strukturanalyse. Seine Untersuchungsmethoden und -techniken entsprechen so international anerkannten Kriterien (Diagnostic criteria for temporomandibular disorders, DC/TMD, Achse I). Für die richtige Durchführung sind Training und Erfahrung wichtig. Bei Verdacht einer psychosomatischen Beteiligung (Achse II) wird mit einem weiteren Befundbogen die Notwendigkeit einer multimodalen Therapie abgeschätzt. Die CMD-Therapie ist grundsätzlich notwendig bei Schmerzen in der Kaumuskulatur und/oder den Kiefergelenken oder bei eingeschränkter Unterkieferbeweglichkeit. Wer mehr erfahren möchte, kann gern in seinen Baseler-CMD Sprechstunden hospitieren.
Der zweite Referent, Prof. Dr. Olaf Bernhardt aus der Poliklinik für Zahnerhaltung, Parodontologie und Endodontologie in Greifswald, habilitierte 2004 über die Epidemiologie von CMD und arbeitet neben seiner universitären Tätigkeit zwei Tage in der Zahnarztpraxis des Klinikums Karlsburg. Er referierte über die CMD-Therapie unter den Stichworten effizient, non-invasiv und reversibel. CMD sind häufig selbstlimitierend. Okklusionsstörungen, schlechte Kiefergelenksverhältnisse bzw. „falsche“ Kondylenpositionen sind keine Ursachen für CMD. Deshalb haben einfache nichtinvasive Therapien den Vorrang. Die Schienentherapie und Physiotherapie bei myogenen und arthrogenen Störungen sind etabliert. In eigenen klinischen Studien wurde gezeigt, dass auch häusliche Übungen wie Selbstmassagen und Training zur Koordination der Unterkieferbewegung fast ebenbürtig sein können. Eine der Veröffentlichungen (Söhnel et al., Greifswald) wurde 2023 mit dem Alexander-Motsch-Preis der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT) ausgezeichnet. Eine dazugehörige Anleitung unter dem Titel „Orale Physiotherapie“ kann bei YouTube von den Patienten genutzt werden. Für die medikamentöse Therapie von CMD-Schmerzen empfahl Prof. Bernhardt bei Myalgien Clonazepam, Diazepam, Gabapentin und trizyklische Antidepressiva in Zusammenarbeit mit dem Hausarzt. Bei Arthralgien sind non-steroidale Antirheumatika (COX-1 und -2 Hemmer) angezeigt. Bei Misserfolg der konventionellen Therapie von Kiefergelenkschmerzen können Arthroskopien in Kombination mit intraartikulären Injektionen (Blutplasma, Hyaluronsäure, Kortikosteroide) in Betracht gezogen werden.
Der ausgebuchte Tagungssaal im Alfried-Krupp-Kolleg
Einen brandaktuellen Beitrag, da noch nicht veröffentlicht, bot Prof. Dr. Ingrid Peroz, Oberärztin in der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik der Charité Berlin und Past-Präsidentin der DGFDT, mit Vorstellung der SK2-Leitlinie zur Schienentherapie bei CMD und in der Präprothetik. Zusammen mit Dr. Bruno Imhoff aus Köln koordinierte sie bei der Erarbeitung dieser Leitlinie Vertreter aus 40 wissenschaftlichen Fachgesellschaften, Organisationen, Berufs- und Patientenverbänden, darunter auch unsere ZMKMV. Ihr Vortrag gab einen ausgezeichnet aufbereiteten Überblick zu den Schienenarten (Relaxierungsschienen, Reflexschienen, Positionierungsschienen wie Reposition- und Distraktionsschienen), deren Indikationen und Grenzen ihres Einsatzes bei CMD. In der Präprothetik kann bei Patienten ohne CMD, darunter auch Bruxismuspatienten, relativ zügig nach sechs Wochen mit der definitiven Therapie in therapeutischer Position begonnen werden. Bei CMD-Patienten sollte jedoch ein beschwerdefreies bzw. -armes Intervall von sechs Monaten abgewartet werden. Reflexschienen ohne Adjustierung und häufig nur mit punktförmigen Kontakten zum Gegenkiefer sind ebenfalls effektiv. Sie sollten aber nur in Ausnahmefällen länger als drei Wochen zum Einsatz kommen. Zum Schluss wurden die konventionellen und CAD/CAM- Herstellungstechniken erläutert. Alle Informationen hierzu würden den Tagungsbericht sprengen und können in der Leitlinie nachgelesen werden, die beim Lesen dieses Beitrages hoffentlich schon offiziell unter www.dgzmk.de/leitlinien erschienen ist.
Wenn es um Bruxismus in Deutschland geht, kommt man am darauffolgenden Referenten Dr. Matthias Lange, niedergelassen in eigener Praxis in Berlin/Wilmersdorf, nicht vorbei. Er studierte in Rostock, war dort von 1995 bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik. Er ist Spezialist für Funktionsdiagnostik und -therapie, Full Member der European Academy of Orofacial Pain and Dysfunction und war von 2007–2013 DGFDT-Vizepräsident. Dr. Lange ist Mitherausgeber der Zeitschrift für kraniomandibuläre Funktion und Initiator des Curriculums Bruxismus der APW. Sein überaus lehrreicher und sehr unterhaltsamer Vortrag über Ursachen, Diagnostik und Therapie bei Bruxismus zeigte, dass diese kaumuskuläre Hyperaktivität keine Erkrankung oder Störung ist, sondern eher eine physiologische Eigenschaft sehr vieler Menschen in irgendeiner Phase ihres Lebens. Bei Heranwachsenden zu mehr als 50 Prozent vorkommend, sind Schlaf- oder Wachbruxismus auch bei Erwachsenen mit 15 bis 30 Prozent nicht gerade selten. Neben der genetischen Disposition kommen psychosoziale Faktoren, Schlafstörungen, endogene Stressbewältigungsmuster, Medikamenten-, Alkohol- und Drogenmissbrauch als ätiologische Faktoren in Betracht. Bruxismus ist neben seiner negativen Wirkung auf Zähne und Restaurationen ein Risikofaktor für die Entstehung von CMD. Da Schäden an der Zahnhartsubstanz schon seit Jahren unverändert vorhanden sein können, sollten weitere Zeichen und Symptome zur Bewertung der gegenwärtigen Aktivität hinzugezogen werden. Dafür ist das hauptsächlich von ihm entwickelte Bruxismusscreening der DGFDT ein wertvolles Diagnostikum. Vor restaurativer Therapie kann mit dem Bruxismusstatus der Ausgangszustand dokumentiert werden. Adjustierte Schienen als Mittel der Wahl bei Bruxismus haben nur einen vorübergehenden Einfluss auf die Aktivität der Kaumuskulaur. Sie bieten jedoch einen zuverlässigen Schutz für die Zahnoberflächen und verteilen lokal auftretende Kräfte. Weitere Methoden zur Beeinflussung des Bruxismus sind Verhaltenstherapie wie Biofeedback und Selbstbeobachtung. So wird der Patient aktiv in die Therapie einbezogen und eine gewisse Eigenverantwortung übertragen. Bei ausgeprägten Formen des Bruxismus können Muskelrelaxantien z. B. Clonazepam und lokale Injektionen von Botulinumtoxin positive Effekte zeigen.
Prof. Dr. Jens Türp (links) und Dr. Matthias Lange
Die fünfte Referentin, Martina Sander, ist seit 1986 in ihrer physiotherapeutischen Praxis tätig, seit 2005 in Kooperation mit dem CMD-Zentrum Hamburg-Eppendorf. Sie leitet das Curriculum „Physiotherapie bei CMD“ für die DGFDT und APW. In ihrem Vortrag erläuterte sie ausführlich die diagnostische Herangehensweise bei CMD-Patienten, die systematisch entsprechend gestalteten Befundbögen folgt und so zu sicheren therapeutische Ansätzen führt. Physiotherapie bei CMD soll Schmerzen lindern, die Beweglichkeit des Unterkiefers verbessern und Verspannungen lösen. Durch gezielte Übungen, manuelle Techniken und Mobilisation werden Muskeln gestärkt und die Kieferfunktion verbessert. Die manualtherapeutischen Behandlungen werden durch Tape-Verfahren unterstützt. Bei der Behandlung der Myopathie besteht die Möglichkeit, durch physiotherapeutische Techniken die betroffene Muskulatur direkt zu beeinflussen und damit ein funktionelles Gleichgewicht im kraniomandibulären System wiederherzustellen. Neben der direkten Wirkung auf die Muskulatur sollte dabei ein Verhaltenstraining erfolgen. Ziel ist es, dem Patienten seine Dysfunktionen bewusst zu machen, um ihm damit zu ermöglichen, seine Zähne und seine Kaumuskulatur zu entlasten und nicht kompensatorisch einzusetzen. Bei der Arthropathie des Kiefergelenks hat die Physiotherapie die Möglichkeit, durch manualtherapeutische Techniken auf das arthro-neuro-muskuläre System einzuwirken. Hierbei kann die Beweglichkeit zwischen den Gelenkflächen sowie die Beweglichkeit des Weichteilmantels des Gelenks (Gelenkkapsel, Bänder und gelenkzugehörige Muskulatur) beeinflusst werden. Griffe und Techniken der Mobilisation und Manipulation stehen dabei zur Auswahl. Kryotherapie bei akuten Schmerzen und Wärme bei chronischen Zuständen wirken begleitend. Jeder Patient wird angeleitet, die Physiotherapie mit häuslichen Übungen zu unterstützen.
Im letzten Vortrag sprach Prof. Mundt zur prothetischen Therapie bei Patienten, die unter CMD leiden. Da die Okklusion für die Entstehung von CMD nur eine untergeordnete Rolle spielt, kann mit primären okklusalen Eingriffen kaum ein Therapierfolg erzielt werden. Deshalb ist eine reversible und non-invasive Vorbehandlung der CMD vor jeglicher prothetischen Therapie notwendig. Die Okklusionsschiene wirkt neben der Beeinflussung des motorisch-sensorischen Regelkreises hauptsächlich über eine Veränderung der Unterkieferlage. Dies entlastet die vormals belasteten und schmerzenden Gelenk- bzw. Muskelkompartimente. Sind die Beschwerden durch die adjustierte Okklusionsschiene spürbar verringert, kann die restaurative Tätigkeit beginnen. Eine Überführung der Schienenposition wie in den 1980er- oder 90er-Jahren in den Hochzeiten der Gnathologie noch postuliert, ist nicht erforderlich und wäre eine Übertherapie. Nach der prothetischen Rehabilitation kann wieder eine Schiene notwendig werden. Indikationen für die Überführung in eine neue therapeutische Position sind entsprechend der Schienen-Leitlinie: 1. die generelle restaurative Therapienotwendigkeit, 2. irreversible okklusale Veränderungen z. B. Non-Okklusion im Seitenzahnbereich durch eine Repositionsschienentherapie, durch eine Behandlung mit einer Unterkieferprotrusionsschiene bei Schlafapnoe bzw. Schnarchen oder durch Elongation von Frontzähnen nach Dauertherapie mit einer Teilschiene und 3. okklusale Veränderungen, die durch Erkrankungen z. B. rheumatoide Arthritis, degenerative Gelenkerkrankungen oder Resektionen am Kiefergelenk entstanden sind und eine CMD zur Folge hatten. Abschließend zeigte Prof. Mundt anhand von Patientenfällen das prothetische Vorgehen „step-by-step“.
Das Krupp-Kolleg mitten in der Altstadt unmittelbar neben dem Dom, das leckere Catering und die dentale Fachausstellung mit zehn Firmen trugen zur positiven Resonanz während und nach der Tagung sicherlich bei. Zum Abschluss wurde für den 28. Juni 2025 eingeladen, an dem das 28. Greifswalder Fachsymposium zum Thema Schlaf(zahn-)medizin am selben Ort stattfinden wird.
Anfragen und Anmeldungen
Frau Uta Gotthardt
Sekretariat Poliklinik für MKG-Chirurgie
Walther-Rathenau-Str. 42a
17475 Greifswald
Tel.: 03834 867180
Fax: 03834 867183
E-Mail: uta.gotthardt AT uni-greifswald.de